Z e h n  T h e s e n  z u r
R e ch t s ch r e i b r e f o r m

Von  H e l m u t  J o ch e m s
6. 1. 1997

1.  Der Auftrag der Kultusministerkonferenz an das Institut für deutsche Sprache aus dem Jahre 1987, unter Heranziehung von Fachleuten eine Reform der deutschen Rechtschreibung zu erarbeiten, kann unmöglich deren unbesehene Übernahme impliziert haben. Tatsächlich sind aufgrund der kritischen Berichterstattung in der Presse im letzten Augenblick seitens der Kultusminister bzw. der Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer einige wenige Korrekturen am Entwurf von 1994 vorgenommen worden, wohingegen eine gründliche Überprüfung durch neutrale Sprachwissenschaftler unterblieben ist.

2.  Die Möglichkeiten der Reform der jetzt gültigen deutschen Rechtschreibung reichen von einer behutsamen Vereinfachung des für gewöhnliche Sprachbenutzer schwer zu überschauenden Regelwerks bis hin zu einer radikalen Neugestaltung unter Aufgabe der Großschreibung der Substantive und Einführung einer konsequent an der Aussprache orientierten graphemischen Lautwiedergabe. Die Deutsche Rechtschreibung 1996 ist nicht in dieses Spektrum einzuordnen. Sie ersetzt vielmehr auf unsystematische Weise die bisherige komplizierte Orthographie durch eine andere nicht minder komplizierte, so daß auch weiterhin orthographisch richtige deutsche Texte nicht ohne den beständigen Rückgriff auf das Rechtschreibwörterbuch zu erstellen sind.

3.  Die Regeln der Deutschen Rechtschreibung 1996 beruhen auf einer überholten linguistischen Konzeption, die sich fast ausschließlich auf formale Kriterien stützt und semantische sowie pragmatische Entscheidungshilfen als unzuverlässig ablehnt. Dabei wird in Kauf genommen, daß die neuen Regeln besonders den Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung außerordentlich komplizieren und häufig zu Lösungen führen, die dem Sprachgefühl kompetenter Benutzer der deutschen Sprache widersprechen.

4.  Die deutsche Rechtschreibung hat sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein spontan entwickelt und ist erst seitdem Gegenstand normierender Entscheidungen. In beiden Phasen wurde stets die Existenz historisch gewachsener Bestände respektiert, was der deutschen Orthographie unter den europäischen Sprachen eine vermittelnde Stellung (zwischen radikaler Modernisierung und starrem Festhalten an der Tradition) verschaffte. Die Deutsche Rechtschreibung 1996 gibt willkürlich einen Teil dieser gewachsenen Bestände auf, ohne den Schreibern damit Erleichterungen zu verschaffen.

5.  Im Bereich der Groß- und Kleinschreibung gab es schon vor den Reformen des vorigen Jahrhunderts Tendenzen, bei ,,verblaßten“ Substantiven und Substantivierungen die Kleinschreibung vorzuziehen. Diese Gepflogenheit ist immer als ein Einstieg in die allgemeine Kleinschreibung der Substantive verstanden worden. Indem die Deutsche Rechtschreibung 1996 solche Kleinschreibungen (allerdings unsystematisch und mit Ausnahmen) wieder aufgibt, wirft sie die deutsche Orthographie auf einen früheren Entwicklungsstand zurück. Der Anspruch, hier sei eine moderne Rechtschreibung geschaffen worden, entbehrt folglich der Grundlage.

6.  Seit 1964 lernt jedes normal schulfähige Kind in Deutschland eine Fremdsprache, vorwiegend Englisch. Dies reflektiert die Tatsache, daß sich moderne Gesellschaften allgemein zu multilingualen entwickeln. Es ist daher unverständlich, daß die Deutsche Rechtschreibung 1996 Fremdwortschreibungen (insbesondere für die englischen Komposita) vorsieht, die nach den Schreibregeln der betreffenden Sprachen nicht möglich sind. Sowohl im Hinblick auf die internationale Kommunikation wie auch angesichts der zu erwartenden schädlichen Auswirkungen auf den Fremdsprachenunterricht ist die Neuregelung deshalb verantwortungslos.

7.  Zu den wissenschaftlichen Defiziten der Deutschen Rechtschreibung 1996 gehört nicht zuletzt, daß bei ihrer Erarbeitung nicht der geringste Versuch unternommen wurde, Stellungnahmen der schreibenden Deutschen zu ihrer Rechtschreibpraxis und den damit verbundenen Problemen einzuholen. Einige der Neuregelungen können zum Beispiel von den Verfassern von Fachtexten nicht übernommen werden, weil sie den verbindlichen fachlichen Normierungen widersprechen. Die unerwartet heftige Reaktion der deutschen Schriftsteller zeigt außerdem, daß die Rechtschreibreformer die Funktion des Deutschen als Literatursprache überhaupt nicht in ihre Überlegungen einbezogen hatten.

8.  An der Ausarbeitung der Deutschen Rechtschreibung 1996 haben Hochschullehrer mitgewirkt. Mit Blick auf das emanzipatorische Selbstverständnis der Wissenschaft wäre diese Tätigkeit nur dann unbedenklich gewesen, wenn sie zu einer für die Benutzer der deutschen Sprache konsensfähigen Normierung geführt hätte. Tatsächlich sind aber die bisherigen Reaktionen auf die neuen Regeln fast ausschließlich ablehnend. Der demokratische Staat gerät in eine unerträgliche Schieflage, wenn er unter Berufung auf den angeblichen Sachverstand von Experten gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger eine derart verfehlte Neuregelung durchzusetzen versucht.

9.  Die neuen Rechtschreibwörterbücher sind aus kommerziellen Gründen in großer Eile erstellt worden und wären auch dann sehr fehlerhaft ausgefallen, wenn die Amtliche Regelung vom 1. 7. 1996 eindeutige Vorgaben geliefert hätte. Tatsächlich ist das Reformdokument aber trotz seiner Länge lückenhaft und in sich widersprüchlich, so daß auch für die Zukunft keine Besserung zu erwarten ist. Das erklärte Ziel der Rechtschreibreformer, das Duden-Privileg durch lexikographische Vielfalt unter der Aufsicht einer zwischenstaatlichen Kommission abzulösen, hat sich jetzt schon als weltfremde Illusion erwiesen.

10.  Da die Deutsche Rechtschreibung 1996 die bisher gültigen komplizierten Regeln durch noch kompliziertere ersetzt, für die Leser deutscher Texte aber mindestens einige Jahrzehnte lang die alten Schreibungen überwiegen werden, ist eine längere Periode großer Unsicherheit auf orthographischem Gebiet zu erwarten. Diese durch die mangelnde Sorgfalt der staatlichen Stellen heraufbeschworene Situation könnte sich jedoch auch positiv auswirken. Gefordert ist jetzt ein tolerantes Verhalten in allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere im Erziehungswesen. Am Ende könnte sich eine konsensfähige einfache Norm herausbilden, die dann der Gängelung durch eine Normierungsinstitution nicht mehr bedürfte.

  K o n t a k t