R e ch t s ch r e i b r e f o r m   a l s
u n e n d l i ch e   G e s ch i ch t e ?   Die Dinge ernstnehmen : Ein Plädoyer für die Wiederherstellung einer sinnvollen Orthographie

Von  T h e o d o r  I ck l e r
Die Welt, 8. 3. 2002

„Rückkehr“ klingt nicht besonders verlockend, „alt“ noch weniger. Die negative Anmutung, die von solchen Wörtern ausgeht, hält auch manchen Kritiker der Rechtschreibreform davon ab, ohne weiteres die Rückkehr zur alten Rechtschreibung zu fordern. Lieber dringt man auf Korrektur der neuen, meist ohne zu bedenken, daß jede Nachbesserung nichts anderes bedeutet als „schon wieder eine Reform“ – mit allen Folgekosten, auch nichtmateriellen. Außerdem hat die Reform mit der künstlichen Veralterung der Buchbestände einen Kulturbruch mit sich gebracht und entwickelt weiterhin so schädliche Nebenwirkungen, daß ein Augenblick der Besinnung nottut.

Auf der Internetseite des Duden-Verlags kann man folgendes lesen :

Manches, was an Entscheidungen in der Zeit nach 1901 (vor allem durch Einzelfallregelungen) hinzugekommen ist, hat die Erlernbarkeit der Rechtschreibung eher erschwert als erleichtert. Selbst geübte Schreiber waren unter diesen Bedingungen nicht immer in der Lage, allen Feinheiten der deutschen Rechtschreibregelung gerecht zu werden.

Die Darstellung trifft zu, und doch ist es seltsam, ihr an dieser Stelle zu begegnen. Denn es war ja niemand anders als die Duden-Redaktion selbst, die durch weltfremde Haarspaltereien die deutsche Rechtschreibung zu einem kaum noch überschaubaren Lernpensum gemacht hat. Erst dadurch bekam der Werbeslogan „Den Duden braucht jeder“ seinen Sinn.

Sehen wir uns die bisherige Praxis an einem Beispiel an. Viele gebildete Zeitgenossen, die eigentlich dem Duden die Treue halten wollen, sind sehr erstaunt, wenn man ihnen miteilt, daß der alte Duden für ernst nehmen nur Getrenntschreibung zuließ. Das Partizip ernstgenommen war dagegen zusammenzuschreiben, und bei ernst zu nehmend war sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung erlaubt. Hingegen mußte leichtnehmen immer zusammengeschrieben werden. Bedenkt man ferner, daß es viele hundert Einzelfestlegungen dieser Art gab, so muß man sagen : Der Duden war selbst schuld daran, daß der Ruf nach jener Reform immer lauter wurde, an der nun der Verlag zugrunde zu gehen (bzw. zugrundezugehen – aber das war nicht zulässig !) droht.

Die Neuregelung hat diesen Irrweg nicht etwa verlassen, sondern ihm nur eine leicht verschiedene Richtung gegeben. Schrieb der Duden noch mal vor, so legt die Neuregelung ebenso rigide nochmal fest. Daß in Wirklichkeit beide Schreibweisen üblich sind und völlig auf der Linie der natürlichen Sprachentwicklung liegen, wird hier wie dort verleugnet. Allerdings blieb es der Reform vorbehalten, auch noch eine Reihe grammatisch falscher Schreibweisen hinzuzufügen : so Leid es mir tut, wie Recht du hattest, sehr Besorgnis erregend. Ganz zu schweigen vom schlicht Lächerlichen : „Füße, die behände sind, Schaden zu tun“ . . . (Lutherbibel, Spr. 6,18, in neuer Rechtschreibung). Das wenigstens hatte uns der Duden niemals zugemutet.

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist so naheliegend, daß es fast peinlich ist, immer wieder darauf hinweisen zu müssen. Wenn man die bisherige Rechtschreibung zunächst einmal so erfaßt und darstellt, wie sie wirklich war und in den seriöseren Medien immer noch ist, erweist sie sich als wesentlich einfacher, als ihre Darstellung im Duden vermuten läßt. Sie zeigt auch erst dann ihre unglaubliche, im Laufe von Jahrhunderten entwickelte erzielte Feinheit und Leserfreundlichkeit.

Die deutsche Rechtschreibung ist zwar Menschenwerk, aber sie ist keinem Gesamtplan entsprungen, sondern ein typisches Phänomen der dritten Art, wie die Sprache selbst. Je mehr man sich damit beschäftigt, um so mehr staunt man über die genialen Einzelheiten. Anders die Reformer: Sie haben zuerst Regeln aufgestellt und dann ohne Rücksicht auf das Gewachsene die Schreibweise einzelner Wörter daraus deduziert.

Um der Sprachgemeinschaft als einer entdeckenden und erfindenden Gruppe gerecht zu werden, muß man freilich den Staat in seine Schranken weisen. Bis 1998 hat er aus dem Bestand des Üblichen ausgewählt und für die Schule Einheitlichkeit erwirkt, er hat aber niemals neue Schreibweisen erfunden oder von sogenannten Experten konstruieren lassen. Nach den schlimmen Erfahrungen mit der Rechtschreibreform – der einzigen, die es in Deutschland je gegeben hat – sollte er sich ganz zurückziehen und die Schriftsprache wieder ihren kompetenten Benutzern überlassen. Sorgen um die Einheitlichkeit der Schriftsprache braucht sich niemand zu machen. Der Staat kümmert sich ja auch nicht um die Grammatik, um die Aussprache oder um die Bedeutung der Wörter. Es würde genügen, Rechtschreibbücher für die Schule einem normalen Zulassungsverfahren zu unterwerfen.