W a r u m   n i ch t   F l o p p ?
Es schreiben doch alle ‚Tipp‘

Von  J ö r g  M e t e s
Leicht gekürzt erschienen in der Berliner Zeitung vom 1. 8. 2002

Come in and find out. An sich ist die neue deutsche Rechtschreibung etwas, das die Werbung gar nicht betrifft. Die Werbung spricht nicht deutsch, sondern englisch. Sie sagt und schreibt Dinge wie Leading to results (Deutsche Bank), Let’s make things better (Philips) oder eben : Come in and find out (Douglas). Es ist eine Art Zwang. Die Werbung kann nicht anders. Sie wird dafür belächelt und angefeindet und verspottet – aber sie spricht englisch. Sie spricht es und schreibt es und kennt natürlich auch den Unterschied zwischen Englisch und Deutsch – auf diesen Unterschied kommt es ihr ja gerade an. Einerseits. Aber andererseits, da schreibt sie mitten in ihrem besten Englisch plötzlich : Tipp.

Warum, ist nicht recht klar. Doch die Werbung schreibt : Beauty-Tipp (Douglas), Fashion-Tipp (Otto-Versand) und Last Minute Tipp (Die Bahn). Sie schreibt Broker-Tipp (Die Sparkassen) und Insider-Tipp (Marco Polo). Und sie schreibt Quick Tipp (Müller Milch) und Web-Tipp (SAT 1) und manchmal sogar World Wide Whip Tipp (Kraft). Sie schreibt es jetzt recht genau schon drei Jahre lang. Aber Englisch ist es nicht.

Wir wissen, was vor drei Jahren geschah. Der 1. 8. 1999 war der Tag, an dem die Presse umstellte. Nicht alle, aber doch so gut wie alle deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften gingen über zu einer neuen deutschen Rechtschreibung. Sie schrieben nicht mehr daß, sondern dass, sie schrieben nicht mehr sogenannt, sondern so genannt, und sie schrieben nicht mehr Tip, sondern Tipp. Wir wissen, daß die Presse sich zu diesem Schritt zwar nicht gesetzlich, aber doch moralisch verpflichtet fühlte. Bereits ein Jahr zuvor, am 1. 8. 1998, hatten die Behörden und Schulen in Deutschland, von Tip auf Tipp umgestellt. Und wir wissen, daß deren Umstellung wiederum zurückzuführen ist auf ein Treffen am 14. 12. 1995, bei dem der damalige Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder die Einführung der neuen Schreibweisen zum 1. 8. 1998 beschlossen hatten. Gemeint war natürlich die Einführung in deutschen Texten und Formulierungen und nicht etwa in englischen. Doch irgend etwas ist schiefgelaufen. Denn seit dem 1. 8. 1999 schreibt nicht nur die deutsche Werbung, sondern auch die deutsche Presse beständig Dinge wie Explorer Tipp (Geo Magazin), Event-Tipp (Amica), Surftipp (Der Spiegel), Top-Tipp (Prisma), Hip-Tipp (die tageszeitung), Business Tipp (Petra) oder Money-Tipp (Focus Money).

Etwas ist schiefgelaufen. Aber was genau? Zum einen beobachten wir diesen Zwang, sich auf englisch zu äußern. Zusammen mit der Werbung unterliegen ihm auch die Werbeträger. Doch zum anderen unterliegen sie dem offenbar noch größeren Zwang, Tipp zu schreiben, und zwar selbst da, wo sie es eigentlich englisch meinen. Es ist, als würde uns jemand, den wir danach nicht einmal gefragt haben, in schlechtem Englisch beteuern, daß er sehr gut englisch spreche. We speak englisch.

Früher einmal, da fand man so etwas komisch. Vor allem dann, wenn es gar noch auf deutsch passierte : wenn man zum Beispiel Urlaub im Ausland machte und auf einer Speisekarte oder einem Schild Dinge las wie „Speisse-karte“, „Herzlisch Will Kommen“ oder „Man Spricht Deutch“. Früher hat man über so etwas gelacht. Heute weiß man nicht mehr so recht : Ist es komisch ? Oder ist es die neue Rechtschreibung ?

Was ist das überhaupt: Rechtschreibung ? Was bedeutet es, wenn das Wort Tip nach 140 Jahren – seit damals hat es im Deutschen den einheimischen Wink verdrängt – von einem Tag auf den anderen nicht mehr so geschrieben werden soll ? Bedeutet es, daß es von Anfang an ein Fehler war, es so zu schreiben ? Falls ja : Wie konnte dieser Fehler so lange unbemerkt bleiben ? Falls nein : Wieso ist es dann jetzt plötzlich einer ? Und wieso ist es keiner im Englischen, wo man seit jeher tip schreibt ?

Folgt man etwa dem britischen „Merriam-Webster’s Dictionary“, so ist Rechtschreibung the art of writing words with the proper letters according to standard usage : die Lehre von den Schreibweisen, die üblich sind. Folgt man dagegen den Betreibern der deutschen Rechtschreibreform, so ist Rechtschreibung eher eine Form von Diskriminierung und Schikane : ein, wie es der damalige niedersächsische Kultusminister Rolf Wernstedt (SPD) 1996 ausdrückte, Herrschaftsinstrument (. . .), mit dem wirklich Bedrückung betrieben werden kann. Indem es nämlich, wie die Vorsitzende des Bundeselternrats Renate Hendricks vor zwei Jahren in einem offenen Brief zur Verteidigung der Reform noch einmal darlegte, gewissen eher konservativen Kreisen die Möglichkeit gibt, die Qualität eines Menschen an seinen „Rechtschreibleistungen“ fest zu machen.

Für die Schreibweise Tip würde das bedeuten, daß sie in England evolutionär und von selbst aufgekommen, in Deutschland dagegen durch einen Willkürakt erzwungen worden wäre. Mit der Entdeckung, daß das Wort Tip sich in Wahrheit Tipp schreibt, wären sozusagen orthographische Ketten gesprengt worden, in denen die bedrückten Massen 140 Jahre lang gelegen haben – was auch die Begeisterung erklären könnte, mit der die einzig wahre Schreibweise nun überall angenommen wird. Im Widerspruch dazu steht allerdings die Tatsache, daß 56 Prozent der Bevölkerung der jüngsten Allensbach-Umfrage vom April zufolge auch im vierten Jahr nach der Reform die neue Rechtschreibung ablehnen. Die Begeisterung ist wohl nur eine scheinbare. Allzu tief empfunden werden dürfte sie nicht einmal von jenen 10 Prozent der Bevölkerung, die die neue Rechtschreibung noch immer befürworten.

Tipp soll man jetzt schreiben, Tripp, Topp, Chipp, Flopp, Slipp oder Popp aber nicht. Aufwändig soll richtig sein, auswändig dagegen falsch. Im Nachhinein soll stimmen, von Vornherein nicht. Daß man wieder sehen schreiben müsse, meinte 1996 der ersten Duden für reformierte Rechtschreibung, daß eher wiedersehen korrekt sei, meinte vier Jahre später wieder der zweite. Das Versprechen der Reformer war, daß die neue Rechtschreibung einfacher und logischer sein würde. Das Ergebnis ist, daß man nicht einmal mehr genau sagen kann, worin sie eigentlich besteht.

Die Bundeselternratsvorsitzende schreibt fest zu machen, obwohl die Reform an der Schreibweise „festzumachen“ nichts geändert hat. Die „Duden“-Redaktion erklärt in ihrem jüngsten Newsletter, daß Schreibweisen wie angsteinflößend eventuell doch korrekt sein könnten, während das amtliche Regelwerk ganz unmißverständlich Angst einflößend vorschreibt. Ein Professor der Universität Vechta veranstaltet zwar Kurse in neuer Rechtschreibung, lehrt aber die Schreibung sogenannt, weil er glaubt, das amtliche Regelwerk, das sich auf so genannt festlegt, werde hier von seinen eigenen Autoren mißverstanden. Die PISA-Studie stellt fest, daß Deutschlands Schüler Schwierigkeiten insbesondere beim Lesen haben. Gleichzeitig tilgen die Kinder- und Schulbuchverlage aus sämtlichen Büchern, mit denen die Schüler das Lesen lernen sollen, alle nach den Regeln der neuen Rechtschreibung nur tilgbaren Kommata. Die „Arbeitsgruppe der deutschen Nachrichtenagenturen“ dagegen erklärt : Die Agenturen bleiben bei der alten Form der Zeichensetzung, um die Lesbarkeit ihrer Nachrichten (. . .) zu gewährleisten.

Wer also hat recht ? Die Kritiker der Reform, die es für angezeigt halten, das Experiment an dieser Stelle abzubrechen und zurückzukehren zur bewährten Rechtschreibung ? Oder das Kultusministerium von Rheinland-Pfalz, das seinen Schülern mittlerweile erlaubt, bei Deutsch-Diktaten ein Wörterbuch zu benutzen ? Und wer bringt der Werbung bei, daß es zwar schön ist, wenn sie gelegentlich doch noch einmal den Versuch macht, sich auf deutsch auszudrücken, aber trotzdem auch nach der neuen Rechtschreibung falsch, wenn sie jetzt weiss (blend-a-med), heiss (UCI Kinowelt), Spass (Die Bahn), Gruss (Quelle), Fussball (Gillette) oder Füsse (Bayer) schreibt ?

Vielleicht liegt hier die Erklärung. Vielleicht schreiben deshalb alle Tipp, weil es die einzige Neuerung ist, die wirklich jeder begriffen hat. Und vielleicht ist das zudem einer der Gründe, warum so viele das Gefühl haben, daß es besser wäre, sich gleich auf englisch zu äußern. Falls ja, wäre das tragisch. Wie wir gesehen haben, geht nur eines von beiden. Vier Jahre nach der Rechtschreibreform können die Deutschen nicht einmal mehr Englisch.

  K o n t a k t