Gränzen der Wirksamkeit

Von  R e i n h a r d  M a r k n e r
Berliner Zeitung, 7. 4. 2003

Andere Nationen haben Wörterbücher, die Deutschen haben den Grimm und den Duden. Ersterer, ein wahrhaft monströses Produkt teutonischen Gelehrtenfleißes, wird wohl auf immer außer Konkurrenz bleiben. Letzterer aber ist mittlerweile seines einst von den Kultusministern verliehenen Privilegs ledig, »maßgebend in allen Zweifelsfällen« zu sein.
Vor diesem Hintergrund war es erfreulich, daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1997 ankündigte, ein neuartiges orthographisches Wörterbuch zu erarbeiten. Es sollte die damals noch überall anstandslos praktizierte Rechtschreibung kodifizieren und zugleich »gewisse Ungereimtheiten, Haarspaltereien und schwer beherrschbare Einzelfestlegungen zu beseitigen« helfen, die sich über Jahrzehnte im Duden angehäuft hatten.
Was von dem löblichen Vorsatz übriggeblieben ist, läßt sich nun besichtigen. Viel ist es nicht. Der von der Darmstädter Akademie vorgelegte Kompromißvorschlag ist weder Wörterbuch noch Regelwerk. Er basiert auch nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, auf der bewährten Rechtschreibung des Deutschen und ihren Entwicklungstendenzen. Stattdessen orientiert er sich im Sinne einer »Reform der Reform« an den 1996 erlassenen Regeln, ohne diese aber gründlich zu kommentieren.
Die große Verspätung, mit der der Band erscheint, bleibt unerklärt, ist aber allenthalben spürbar. Im Zentrum steht ein Text, der schon 1999 veröffentlicht und seither nur geringfügig überarbeitet wurde. »Wohlvertraute Wörter (wie Handvoll) können nicht abgeschafft und aus den Lexika . . . eliminiert werden«, heißt es hier. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, zu welchen Retuschen an der Sprachwirklichkeit deutsche Linguisten bereit sind. Peter Eisenberg, der Potsdamer Sprachwissenschaftler, unter dessen Federführung die Akademie-Vorlage erarbeitet worden ist, weiß dies aus eigener Anschauung. Letztes Jahr schrieb er die Einleitung zu einem Wörterbuch, aus dem das Lemma Handvoll wie selbstverständlich getilgt ist (Berliner Zeitung vom 2. 9. 2002).
Eisenberg steht auf dem Standpunkt, »daß dem Staat die Legitimation zu tieferen Eingriffen in die Rechtschreibung« fehle; »evidente Dummheiten« müsse man sich nicht gefallen lassen. Aber wer entscheidet, welcher Eingriff zu tief, welche Dummheit evident ist? »Das wäre hinnehmbar«, heißt es an verschiedenen Stellen zu jenen Bestimmungen der Rechtschreibreform, welche Eisenberg zwar nicht gutheißt, deren Mißachtung oder Rücknahme er aber nicht (mehr) empfehlen mag. Aber was berechtigt ihn, von sich auf eine ganze Sprachgemeinschaft zu schließen?
Die Motive für die Festlegungen des Kompromißvorschlags bleiben über weite Strecken dunkel, etwa im Bereich der Lehnwörter. Warum soll die Schreibung Bravur möglicherweise »ungewollte Folgen für die Aussprache haben«, die Schreibung Kreme hingegen nicht? Weshalb verbieten sich einige Eindeutschungen (Spagetti, Krepp) »durch den Respekt gegenüber den anderen Sprachen«, andere jedoch nicht (Jogurt, Negligee)? Hier herrscht die gleiche Willkür wie bei den Reformern, die den Tipp einführten, es aber beim Trip beließen.
Klar ist immerhin, warum Eisenberg vorschlägt, die besonders fehlerträchtige Neuverteilung von ss und ß hinzunehmen: »Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft.« In diesen Geruch will Eisenberg nicht kommen, und so kuriert er an Symptomen herum. Stoßen etwa drei s aufeinander, sollen die ersten beiden durch ein ß ersetzt werden können: Messergebnis, aber Meßstation, Schlosshof, aber Schloßstraße.
Der Kompromißvorschlag soll also die Rechtschreibreform nicht »grundsätzlich« in Frage stellen. Daher gebricht es ihm in jeder Hinsicht an gedanklicher Konsequenz. Ginge es der Akademie wirklich, wie sie betont, um die Wiederherstellung der Einheit der deutschen Rechtschreibung, müßte sie eigentlich fordern, auf das ß vollständig zu verzichten. Eine derartige Angleichung von deutschem und schweizerischem Schreibgebrauch würde zugleich die Fehlerzahlen senken helfen. Aber Eisenberg und seine Kollegen mögen nicht einmal die Zusammenschreibung von zuhause auch auf dieser Seite des Rheins freigeben.
Die Akademie hat es vorgezogen, ihren Diskussionsbeitrag in der bewährten Rechtschreibung zu veröffentlichen. Wer auf ihre Empfehlungen Wert legt, sollte ihrem Beispiel folgen. Das erspart viel unnütze Arbeit. Schließlich lohnt die Beschäftigung mit dem Thema eigentlich nur, weil sie dazu dienen kann, mit Wilhelm von Humboldt gesprochen, die »Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«. Die Sprache liegt außerhalb dieser Grenzen. Für diese Erkenntnis zu werben wäre eine würdige Aufgabe für die Deutsche Akademie.