Wenn der führende deutsche
Rechtschreibreformer ein Wortfamilienwörterbuch*
vorlegt, verdient dies aus zwei Gründen Beachtung.
Erstens darf man sich Aufschluß erhoffen über die
theoretischen Grundlagen befremdlicher
Neuschreibungen wie schnäuzen, verbläuen,
Stängel, Zierrat. Zweitens ist interessant, wie
der Vorsitzende der Rechtschreibkommission selbst es
mit der neuen Rechtschreibung hält, deren korrekte
Anwendung sich bekanntlich als überaus schwierig
erwiesen hat.
Etymologisch geordnete
Wörterbücher gibt es seit langem. Sie befriedigen
teils ein sprachgeschichtliches Interesse, teils
erleichtern sie das Vokabellernen im
Fremdsprachenunterricht; mancher erinnert sich wohl
aus der Schulzeit einer sogenannten
Wortkunde. Augst hat jedoch anderes im
Sinn. Nicht die wissenschaftlich ermittelten
historischen Zusammenhänge zwischen den Wörtern
sollen das Ordnungsprinzip liefern, sondern die im
Kopf eines Laien vermutete assoziative Beziehung,
Augst nennt sie synchrone etymologische
Kompetenz.
Natürlich fragt sich
sogleich, wo man diesen Laien findet. Nächst dem
Geld ist bekanntlich nichts so ungleich unter den
Menschen verteilt wie die Sprachkenntnis. In dieser
Situation erfindet Augst den absoluten Laien. Er
verfügt weder über eine Berufsausbildung noch über
Fremdsprachenkenntnisse, kann also keine
weiterführende Schule besucht haben und liest auch
keine Zeitung. Unter den Informanten
Kollegen, Freunde und Bekannte
, die Augst befragt hat, sind solche
Hinterwäldler sicher nicht zu finden ; der Autor erklärt denn auch : Im Großen und Ganzen
spiegelt dieses Wörterbuch die Ordnung nach
Wortfamilien so wider, wie wir sie als
(re)konstruierende Wörterbuchautoren dem
,normalen Sprachteilhaber idealtypisch
unterstellen. Das heißt in schlichteren Worten : Augst denkt sich aus, was der Laie
sich bei bestimmten Wörtern denken könnte. Wie
kenntnislos man sich diesen fiktiven Laien
vorzustellen hat, geht ein wenig klarer aus seinem
Gegenbild hervor, dem Fachmann. Zu Skateboard merkt
Augst an : Für Fachleute eine
Zusammensetzung. Zu Cornflakes : Die Fachleute stellen
es zu Korn und Flocke. Schon
geringfügigste Englischkenntnisse, wie man sie
hierzulande bei Zehnjährigen findet, machen also den
Fachmann aus aber für welches Fach ? Da sich sehr ähnliche Bemerkungen
zu Hunderten finden, kann man sie nicht als
belanglose Nachlässigkeiten abtun.
Bei der Beschaffung seines
Materials begeht Augst einen doppelten Fehler : Er übernimmt sowohl den
Stichwortbestand als auch die Bedeutungsangaben aus
bereits vorliegenden Wörterbüchern von fremder
Hand, hauptsächlich aus dem 1984 in der DDR
erschienenen Handwörterbuch der deutschen
Gegenwartssprache (HDG), gelegentlich auch aus
dem Duden Universalwörterbuch (DUW). Das
bescheidene HDG gewinnt aus unerfindlichen Gründen
kanonische Geltung, als dürfe davon ohne besonderen
Anlaß kein Jota weggelassen werden. Diese enge
Bindung an die Vorlage hat zur Folge, daß die
befragten und natürlich erst recht die erfundenen
Laien viele Wörter oder Wortbedeutungen gar nicht
kennen, wie Augst zum Beispiel bei repassieren ausdrücklich
zugibt. Wie sollten auch dem Laien, der nicht einmal Cornflake
oder Go-in als Zusammensetzungen
durchschaut, Bionik oder Daktyloskopie geläufig
sein ? Zu Eierschecke merkt Augst
an : Die Informanten kennen das
Wort nicht, so dass eine denkbare synchrone Beziehung
zu Scheck nicht belegt werden kann. Das
Irreale des Unternehmens könnte nicht deutlicher
werden.
Wenn man Laien nach
Wortverwandtschaften fragt, kommen sie auf Gedanken,
die sie sich sonst nicht machen würden. Zu schellen
bemerkt Augst :
Etym. gehört diese Wortfamilie zu schallen,
Schall ; die Informanten sehen selbst
nicht diesen Zusammenhang, akzeptieren ihn aber
erstaunt, wenn man ihn nennt. Was bleibt ihnen
anderes übrig ? Die Episode belegt nur, daß
normale Menschen imstande sind, einem etymologischen
Gedankengang zu folgen. Niemand hat es bezweifelt.
Aber in wie vielen Fällen mag der Interviewer es
gewesen sein, der einen Zusammenhang erst herstellte,
den der Interviewte mangels besserer Gegenvorschläge
dann ganz annehmbar finden mußte? Das heute
undurchsichtige Verb ergötzen stellen
angeblich alle Informanten zu Götze (weshalb
es unter Gott eingeordnet ist, womit es
natürlich nichts zu tun hat). Hätte Augst seine
Informanten nach dämlich gefragt, wären sie
wahrscheinlich auf Dame verfallen. Überhaupt
läßt er sich erstaunlich viel entgehen. Daß Trauma
heute oft mit Traum und Alptraum in
Verbindung gebracht wird, kann man fast täglich in
der Zeitung lesen : die
alptraumatische Szenerie (aus der F.A.Z.). Augst
weiß davon nichts. Übrigens zeigen solche Belege,
wie man philologisch exakt, ohne Spekulation über
einen fiktiven Laien, zu Einsichten in
volksetymologische
Wortschatzumschichtungen gelangen kann.
Noch ein anderes großes
Gebiet läßt Augst sich entgehen : die Psychophonetik. Es ist seit
langem bekannt, daß im Kopf des Sprechers viele
Wörter, die zum Beispiel mit spr-, schl- oder
kn- anlauten, jeweils auf eine schwer
greifbare und dennoch wirksame Weise
zusammengehören. Diese Beziehungen liegen jedoch
unterhalb der Morphemschwelle, so daß sie gleichsam
durch das Augstsche Familiensieb schlüpfen.
Statt dessen zeigt der
Verfasser eine ganz unproportionierte Detailfreude in
belanglosen Dingen : Die
Definition von Fondue zum Beispiel läuft zu
rezeptartiger Ausführlichkeit auf, wobei
ausnahmsweise das Käsefondue nach dem alten Wahrig
beschrieben wird. Für ein Wortfamilienwörterbuch
eher unerwartet schließt sich folgende Bemerkung an : Das Primäre ist das (Käse)fondue ; in manchen Gegenden der dt.
Sprache ist heute das Fleischfondue als Fondue
primär, das Käsefondue sekundär. Wenn
das so weitergeht, wird das Käsefondue noch tertiär
und schließlich ganz obsolet werden !
Zu den störendsten Zügen
der sogenannten Rechtschreibreform gehört
bekanntlich, daß die volksetymologischen
Schreibungen dogmatisch als die allein zulässigen
dekretiert werden : Auch
wer Zierat keineswegs mit Rat, verbleuen nicht
mit blau und schneuzen nicht mit Schnauze
in Verbindung bringt, soll jetzt Zierrat,
verbläuen, schnäuzen schreiben müssen. Ebenso
verfährt Augst in seinem Wörterbuch. Die ganze
Wortsippe um Dichtung (,Poesie) wird
ohne Umstände unter das Adjektiv dicht subsumiert.
Als Rechtfertigung dient folgende Behauptung :
dichten <<>
neu motiv.: dicht machen> ein sprachliches
Kunstwerk (in gebundener Form) schaffen
Aber diese kalauerhafte
Geistreichelei, wie man sie gelegentlich im
Feuilleton findet, ist keineswegs Gemeingut des
ganzen Sprachvolks.
Was die Wortbedeutungen
betrifft, so ist es widersinnig, zwar die Beziehungen
zwischen ihnen im Kopf des Laien aufspüren zu
wollen, die Bedeutungen selbst jedoch einem mit ganz
anderen Zielen verfaßten Lexikon zu entnehmen.
Welcher Laie weiß schon, daß der Holunder ein
Geißblattgewächs und Glyzerin eine
hygroskopische Flüssigkeit ist ? Dies und tausenderlei von gleicher
Art wird ungefiltert aus der Vorlage übernommen.
Die Erhebung des Laien zum
Richter über die Organisation des Wortschatzes
gerät in ein seltsames Licht, wenn man sich näher
ansieht, was Augst im eigenen Namen über manche
Wörter zu sagen hat. Gleich am Anfang seines Werks
stößt man auf einen schockierenden Eintrag :
a-, ab-,
an-, ana- /Präfix/ nicht; /oft mit der
zusätzlichen Bed./: zuwiderlaufend: ahistorisch;
apolitisch; asymmetrisch; abnormal; anorganisch;
anachronistisch. ab- ist etym. eine Variante
des Negationspräfix a-
Das griechische
Negationselement a- (vor Vokalen an-) hat
natürlich weder mit der Präposition ana noch
mit der lateinischen Präposition ab das
geringste zu tun. Wenn man dies gelesen hat, wundert
man sich weniger über die dilettantische Qualität
der Rechtschreibreform.
Die Übernahme der
Bedeutungsangaben und sogar der Verwendungsbeispiele
aus fremden Werken wirft noch eine andere, etwas
delikate Frage auf. Dazu muß man sich den Tatbestand
wenigstens an einigen Beispielen vor Augen führen.
Das HDG definiert das Wort gleiten so :
1.1 sich wie
von selbst, gleichmäßig, unter Überwindung von
Reibung über eine glatte od. schlüpfrige
Fläche hin entlang bewegen, ohne sich vom
Untergrund zu lösen: mit Schlittschuhen über
das Eis (. . .) g.; (. . .) <> die Tänzer
glitten über das Parkett 1.2. ein Vogel gleitet
(fliegt im Gleitflug) durch die Luft 2.
sich wie von selbst, gleichmäßig (auf einer
glatten Fläche) nach unten bewegen: jmd. gleitet
ins Wasser (. . .); das Tuch glitt von ihren
Schultern, zu Boden
Augst schreibt :
sich wie von
selbst, unter Überwindung von Reibung über eine
glatte od. schlüpfrige Fläche hin
entlangbewegen, ohne sich vom Untergrund zu
lösen: mit Schlittschuhen über das Eis g.;
<> die Tänzer glitten über das Parkett;
ein Vogel gleitet (fliegt im Gleitflug) durch die
Luft; sich wie von selbst, gleichmäßig (auf
einer glatten Fläche) nach unten bewegen: jmd.
gleitet ins Wasser; das Tuch glitt von ihrer
Schulter zu Boden
Wo das HDG wegen seiner
ideologischen Schlagseite oder aus anderen Gründen
nicht zu gebrauchen war, kopiert Augst das
Duden-Universalwörterbuch (DUW):
DUW: Miliz Streitkräfte,
deren Angehörige eine nur kurzfristige
militärische Ausbildung haben u. erst im
Kriegsfall einberufen werden
Augst: Miliz Streitkräfte,
deren Angehörige nur eine kurzfristige
militärische Ausbildung haben u. erst im
Kriegsfall einberufen werden
So geht es Seite um Seite.
Das Werk ist im großen und ganzen eine leicht
gekürzte und etwas anders arrangierte Abschrift,
ergänzt um gelegentliche Bemerkungen im Sinne der
Augstschen Grundidee. Die DDR-Autoren,
die nach 1989 nicht hoffen durften, daß ihrem Werk
noch einmal eine neue Auflage beschieden sein
könnte, waren dem Vernehmen nach mit dieser Art von
Nachleben einverstanden. Dennoch ist ein solcher Fall
plagiierender Nachschöpfung bisher aus der
Geschichte der Lexikographie nicht bekannt.
Leidtragender ist letzten Endes der Käufer, der aus
der Titelei nicht entnehmen kann, daß er für viel
Geld etwas erwirbt, was er bis auf die
Fußnoten des Bearbeiters möglicherweise
schon lange besitzt.
Was nun Augsts eigenen
Umgang mit der sogenannten Rechtschreibreform
betrifft, so hat er sein Werk zwar in einer neuen
Rechtschreibung abgefaßt, aber keineswegs in der
amtlichen, sondern so, wie die Kommission, deren
Vorsitzender er ist, im Januar 1998 die Neuregelung
geändert wissen wollte, damit sie nicht gar zu sehr
gegen Grundregeln der deutschen Grammatik verstieße.
Augst schreibt also blutsaugend
und Zeitlang wieder zusammen ; jdm. feind sein kann
offenbar auch wieder klein und Tolpatsch mit
einem l geschrieben werden. Er schreibt Fair play,
fritieren wie bisher ; die
Neuregelung verlangt Fair Play, frittieren.
Die Kultusminister haben
jene Korrekturvorschläge abgelehnt, aber Augst nimmt
mit Recht an, daß das Veto nur für eine
Übergangszeit gilt : bis
die Schulbuchverleger ihre umgestellten Titel
verkauft haben. Damit wird nochmals klar, daß die
gegenwärtige Reform schon bald überholt sein wird.
Die kostspielige Umstellung der Schul- und
Kinderbücher wäre nicht nötig gewesen, wird aber
nun in Kürze ein zweites Mal fällig.
Die Vorbereitung dieses
Buches wurde jahrelang von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft finanziert, die zuletzt auch
noch die Umstellung auf die Augstsche
Spezialorthographie unterstützt haben soll.
Gerhard Augst:
Wortfamilienwörterbuch der deutschen
Gegenwartssprache. Tübingen, Max Niemeyer, 1687 S.;
258,- DM
Eine ausführlichere
Würdigung des Wörterbuchs erschien in der
Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 66
(1999), S. 296307.