S u b t i l e   N u a n c e n
Neue Rechtschreibung und Literatur

Von  S t e f a n  S t i r n e m a n n
Neue Zürcher Zeitung, 30. 10. 2001

Die neue Rechtschreibung hat sich in den belletristischen Neuerscheinungen noch keineswegs durchgesetzt. Bei vielen Autorinnen und Autoren von Gewicht stößt die Neuregelung auf Ablehnung, da sie in Überschreitung des rein Orthographischen in die Bedeutungen eingreift.

Gräulich oder greulich ?

Es handelt sich um zwei verschiedene Bedeutungen, die durch die verlangte Einheitsschreibung mit ä der Unklarheit anheimfallen. Thomas Hürlimann beschreibt in seiner jüngst erschienenen Novelle «Fräulein Stark» den Stiftsbibliothekar und sein Gefolge nach einer Inspektion als gräulich verstaubt und meint natürlich die Farbe. Diese ist auch gemeint in Thomas Manns Ausdruck das gräuliche Toben der Isar («Herr und Hund»). Anderseits nennt Mann das Meer greulich («Joseph und seine Brüder») und zeichnet es so als etwas Schreckliches, als das, was sich der Schöpfungsordnung widersetzt, was im tiefsten Sinne Gegenpol von Humanität und Kultur ist. Adjektiv und entsprechendes Substantiv Greuel haben einen ehrwürdigen biblischen Hintergrund (z. B. Dtn. 7, 25); das hebräische Substantiv bezeichnet laut dem Theologischen Handwörterbuch zum Alten Testament das, was auf Grund von Gruppennormen als gefährlich und darum angst- und ekelerregend gelten muß. – Der Greuel (alte Bibelübersetzungen schreiben grewel) ist ein Grundthema Thomas Manns. Gregorius nennt sich der Sünde greuliche Frucht («Der Erwählte»), Hans Castorp schaut in seinem Schneetraum in einer verborgenen Tempelkammer zwei graue Hexenweiber, die ein kleines Kind blutig zerreißen; er will fliehen – da hatten sie ihn schon gesehen bei ihrem greulichen Geschäft («Der Zauberberg»). Überall ist die Farbqualität des gräulich auszuschließen, welche besonders im zitierten Traum wie eine Parodie wirkt auf die mit dichterischer Präzision gemalte Stimmung von endlosem Schneeweiß und Nebelgrau.

Feind oder feind ?

Daß die neue Schreibung Ich bin dir Feind zu einer Verwirrung der Kasus-Verhältnisse führt, zeigt folgender Satz Goethes, in welchem Wilhelm Meister über die französische Sprache ausruft : Wie kann man einer Sprache feind sein (. . .), der man den größten Teil seiner Bildung schuldig ist ? («Lehrjahre»). Zu feind gehört ein Dativ, zu Feind ein Genitiv ; der Sinn ist jeweils verschieden. In einer analogen Fügung schreibt Thomas Mann über Josephs Bruder Juda, der im Banne der Liebesgöttin Astaroth leben muß : da er von der Herrin schon immer geplagt worden, das heißt : ihr untertan gewesen war (. . .). Hier ist groß und klein ebenfalls nicht austauschbar. Da die Neuregelung untertan nicht verändert (der Duden notiert es als veraltend), sollte sie auch das Adjektiv feind anerkennen.

Heilignüchtern und prächtigbunt

Zweiteilige Adjektive sollen neu getrennt werden, wenn der erste Teil auf -ig, -isch, -lich endet. Unter die Regel fällt auch Hölderlins heilignüchternes Wasser («Hälfte des Lebens»). Es ist ein Oxymoron nach dem Muster des süßbitteren Eros der Dichterin Sappho. Die Verbindung des eigentlich Widerstrebenden findet ihren graphisch adäquaten Ausdruck in der Notierung in einem Wort (so im Taschenbuch für das Jahr 1805 und in der Großen Stuttgarter Ausgabe). Daß die Trennung einen anderen Sinn ausdrückt, zeigt wieder Thomas Mann : Die Barbaren, über die der Pharao triumphiert, heißen die heilig Verblüfften; sie sind selber keineswegs heilig, sondern sie erstarren vor dem Pharao wie vor einem Gott.

Langeweile und lange Weile

Die neue Schreibung vor langer Weile versetzt den ersten Bestandteil in den Stand eines freien Attributs. Verbunden hat man das Attribut allerdings genau deswegen mit dem Substantiv, weil es diesen Stand verloren hat. Thomas Mann motiviert Adrian Leverkühns Migräne, von der er in der Schule oft befallen wurde, so: Das Hauptweh (. . .) kam von kalter Langerweile («Faustus»). Beim lauten Lesen zeigt sich sofort, daß kalt in ganz anderer Weise Attribut zu Weile ist als lange ; deshalb ist die Zusammenschreibung sinnvoll. Zum Vergleich diene der Ausdruck nach nicht allzu langer Weile, mit welchem nur die Zeit bezeichnet ist (Mann, «Joseph»).

Heiß ersehnt oder heißersehnt ?

Keineswegs ist heißersehnt eine alte Schreibung (Duden), die beliebig aufgelöst werden dürfte. Der deutlichste Beleg dafür ist ein Satz Erich Kästners über Probleme des Stromausfalls in den letzten Tagen des Dritten Reiches : Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande («Notabene 45»). Natürlich bedeutet das getrennt gesetzte Adverb nicht stets die Temperatur: Bei Thomas Mann ist Joseph der von Mut-em-enet, der Frau Potiphars, heiß Begehrte. Die Entscheidung über die Schreibweise trifft der Autor, nicht der Orthograph.

Die Beispiele zeigen, daß die neue «amtliche» Rechtschreibung Bereiche regulieren will, die längst festgelegt sind und nicht zur Disposition stehen. Was nützen Schreibregeln, zu denen sich unsere Literatur als Ausnahme verhält ?

 
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