Die neue
Rechtschreibung hat sich in den belletristischen
Neuerscheinungen noch keineswegs durchgesetzt. Bei
vielen Autorinnen und Autoren von Gewicht stößt die
Neuregelung auf Ablehnung, da sie in Überschreitung
des rein Orthographischen in die Bedeutungen
eingreift.
Gräulich oder greulich ?
Es handelt sich um zwei
verschiedene Bedeutungen, die durch die verlangte
Einheitsschreibung mit ä der Unklarheit
anheimfallen. Thomas Hürlimann beschreibt in seiner
jüngst erschienenen Novelle «Fräulein Stark» den
Stiftsbibliothekar und sein Gefolge nach einer
Inspektion als gräulich verstaubt und meint
natürlich die Farbe. Diese ist auch gemeint in
Thomas Manns Ausdruck das gräuliche Toben der
Isar («Herr und Hund»). Anderseits nennt Mann
das Meer greulich («Joseph und seine
Brüder») und zeichnet es so als etwas
Schreckliches, als das, was sich der
Schöpfungsordnung widersetzt, was im tiefsten Sinne
Gegenpol von Humanität und Kultur ist. Adjektiv und
entsprechendes Substantiv Greuel haben einen
ehrwürdigen biblischen Hintergrund (z. B. Dtn. 7,
25); das hebräische Substantiv bezeichnet laut dem
Theologischen Handwörterbuch zum Alten Testament
das, was auf Grund von Gruppennormen als gefährlich
und darum angst- und ekelerregend gelten muß.
Der Greuel (alte Bibelübersetzungen schreiben grewel)
ist ein Grundthema Thomas Manns. Gregorius nennt
sich der Sünde greuliche Frucht («Der
Erwählte»), Hans Castorp schaut in seinem
Schneetraum in einer verborgenen Tempelkammer zwei
graue Hexenweiber, die ein kleines Kind blutig
zerreißen; er will fliehen da hatten sie
ihn schon gesehen bei ihrem greulichen Geschäft («Der
Zauberberg»). Überall ist die Farbqualität des gräulich
auszuschließen, welche besonders im zitierten
Traum wie eine Parodie wirkt auf die mit
dichterischer Präzision gemalte Stimmung von
endlosem Schneeweiß und Nebelgrau.
Feind oder feind ?
Daß die neue Schreibung Ich
bin dir Feind zu einer Verwirrung der
Kasus-Verhältnisse führt, zeigt folgender Satz
Goethes, in welchem Wilhelm Meister über die
französische Sprache ausruft : Wie
kann man einer Sprache feind sein (. . .), der man
den größten Teil seiner Bildung schuldig ist ? («Lehrjahre»). Zu feind
gehört ein Dativ, zu Feind ein Genitiv ; der Sinn ist jeweils verschieden.
In einer analogen Fügung schreibt Thomas Mann über
Josephs Bruder Juda, der im Banne der Liebesgöttin
Astaroth leben muß : da
er von der Herrin schon immer geplagt worden, das
heißt : ihr untertan gewesen war (. .
.). Hier ist groß und klein ebenfalls nicht
austauschbar. Da die Neuregelung untertan nicht
verändert (der Duden notiert es als veraltend),
sollte sie auch das Adjektiv feind anerkennen.
Heilignüchtern und
prächtigbunt
Zweiteilige Adjektive sollen
neu getrennt werden, wenn der erste Teil auf -ig,
-isch, -lich endet. Unter die Regel fällt auch
Hölderlins heilignüchternes Wasser («Hälfte
des Lebens»). Es ist ein Oxymoron nach dem Muster
des süßbitteren Eros der Dichterin Sappho.
Die Verbindung des eigentlich Widerstrebenden findet
ihren graphisch adäquaten Ausdruck in der Notierung
in einem Wort (so im Taschenbuch für das Jahr 1805
und in der Großen Stuttgarter Ausgabe). Daß die
Trennung einen anderen Sinn ausdrückt, zeigt wieder
Thomas Mann : Die Barbaren, über die der Pharao
triumphiert, heißen die heilig Verblüfften;
sie sind selber keineswegs heilig, sondern sie
erstarren vor dem Pharao wie vor einem Gott.
Langeweile und lange Weile
Die neue Schreibung vor
langer Weile versetzt den ersten Bestandteil in
den Stand eines freien Attributs. Verbunden hat man
das Attribut allerdings genau deswegen mit dem
Substantiv, weil es diesen Stand verloren hat. Thomas
Mann motiviert Adrian Leverkühns Migräne, von der
er in der Schule oft befallen wurde, so: Das
Hauptweh (. . .) kam von kalter Langerweile («Faustus»).
Beim lauten Lesen zeigt sich sofort, daß kalt in
ganz anderer Weise Attribut zu Weile ist als lange ; deshalb ist die
Zusammenschreibung sinnvoll. Zum Vergleich diene der
Ausdruck nach nicht allzu langer Weile, mit
welchem nur die Zeit bezeichnet ist (Mann,
«Joseph»).
Heiß ersehnt oder
heißersehnt ?
Keineswegs ist heißersehnt
eine alte Schreibung (Duden), die beliebig
aufgelöst werden dürfte. Der deutlichste Beleg
dafür ist ein Satz Erich Kästners über Probleme
des Stromausfalls in den letzten Tagen des Dritten
Reiches : Die Wirtschafterin kämpfte in
der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die
heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln
trotzdem nicht zustande («Notabene 45»).
Natürlich bedeutet das getrennt gesetzte Adverb
nicht stets die Temperatur: Bei Thomas Mann ist
Joseph der von Mut-em-enet, der Frau Potiphars, heiß
Begehrte. Die Entscheidung über die Schreibweise
trifft der Autor, nicht der Orthograph.
Die Beispiele zeigen, daß
die neue «amtliche» Rechtschreibung Bereiche
regulieren will, die längst festgelegt sind und
nicht zur Disposition stehen. Was nützen
Schreibregeln, zu denen sich unsere Literatur als
Ausnahme verhält ?