Denke an
das Unbehagen, das wir empfinden, wenn die
Rechtschreibung eines Wortes geändert wird,
heißt es mahnend in einem Text von Ludwig
Wittgenstein. Wittgenstein wollte zeigen, daß
diejenigen Gegenstände, welche unter einen Begriff
fallen, nur durch Familienähnlichkeit,
nicht aber durch eine identische Eigenschaft
zusammengehalten werden.
Als
Lesen bezeichnen wir sowohl das erste,
noch mühsame Buchstabieren des Schulanfängers wie
auch das Verschlingen eines Abenteuerromans durch den
Heranwachsenden, sowohl das Konsultieren eines
Fahrplans wie das Überfliegen einer Zeitung. Diese
verschiedenen Vorgänge haben Wittgensteins Analyse
zufolge untereinander jeweils zwar viel gemeinsam,
aber nicht alle das gleiche. Es steht in diesem
Zusammenhang, wenn Wittgenstein auf mögliche
Störungen des Leseflusses eingeht. Das
Unbehagen an der veränderten Schreibung
eines Wortes, aber auch die noch tieferen
Gefühle, die Fragen der Schreibung von Wörtern in
manchen Menschen aufgeregt haben, verstand er
als Beleg dafür, daß wir ein über praktische
Belange hinausgehendes Verhältnis zu Schrift und
Rechtschreibung haben können.
Die zitierten Sätze schrieb
Wittgenstein 1936 vor dem Hintergrund des
Sprachbürgerkriegs in Norwegen, wo wieder einmal die
Rechtschreibung reformiert werden sollte. In der Tat
interessierte sich Wittgenstein gerade für die
Wirkungen, die von einer Änderung der
Rechtschreibung ausgelöst werden können. Das tat er
nicht nur in der Ergänzung zum Brown Book, sondern
auch bei der Wiederaufnahme des Themas in den Bemerkungen
über die Philosophie der Psychologie um das Jahr
1948 : Verschiedene Menschen,
schrieb Wittgenstein dort, empfänden es sehr
verschieden stark, wenn die Rechtschreibung
eines Wortes geändert werde. Die naheliegende
Erklärung, daß dahinter ausschließlich
Pietät für einen alten Gebrauch stehe,
wies er zurück. Statt dessen bringt er eine
besondere Empfindlichkeit ins Spiel : Wem die Orthographie nur eine
praktische Frage ist, dem geht ein Gefühl ab, nicht
unähnlich dem, welches einem
,Bedeutungsblinden mangeln würde.
Mit der im Spätwerk häufig
wiederkehrenden Figur des
Bedeutungsblinden stellte Wittgenstein
Gedankenexperimente an, um damit (zumindest
ursprünglich) die Annahme zu testen, ob jemand eine
Sprache beherrschen könne, ohne die Bedeutung ihrer
Wörter und Sätze zu erleben. Wenn er also
denjenigen, der Orthographie ausschließlich unter
praxis-orientierten Aspekten als Mittel zur
Kommunikation betrachtet, dem Bedeutungsblinden
zugesellte, dann hatte er Erfahrungen im Blick, die
man beim Lesen und Schreiben machen kann. So mag eine
Schreibweise anmuten, als sei sie gleichsam ein
Bild der Bedeutung, mithin ikonisch. Dem mag
nichts in der Realität entsprechen, und doch
insistierte Wittgenstein darauf, daß derlei
Erlebnisse nicht einfach Täuschungen seien. Die
bildhafte Erfahrung der Schrift gehört sogar zu den
Voraussetzungen flüssigen Lesens Wittgenstein
im Braunen Buch: Die Buchstaben alle
ungefähr von der gleichen Größe, immer
wiederkehrend ; die Wörter, die sich zum großen
Teil ständig wiederholen und uns unendlich
wohlvertraut sind, ganz wie wohlvertraute
Gesichter. Jede Änderung der Schreibung greift
in dieses Bild ein und stört die Bewegung des
Lesens.
Wittgenstein sprach sich
nicht explizit gegen staatliche Eingriffe in die
Voraussetzungen des Lesens aus. Aber jemand, der auf
die von ihm untersuchten Phänomene aufmerksam
geworden ist, bräuchte schon sehr gute Argumente, um
das Übel einer Verletzung solch gewachsener
Strukturen aufwiegen zu können. Man solle, schrieb
der von Wittgenstein gerne zitierte Grillparzer 1856,
am Materiellen einer Sprache nichts
stoßweise ändern, sobald es in ihr eine
klassische Literatur gebe, und fügte hinzu : Leider veralten auch die
großen Schriftsteller, es wäre aber Frevel,
beizutragen, daß sie vor der Zeit veralten.
Anlaß für die
Stellungnahme des Dramatikers waren Vorschläge der
Gebrüder Grimm, die deutsche Rechtschreibung zu
reformieren. Die Sprache wollte Grillparzer aber
nicht Wissenschaftlern, Behörden oder Schulen als
Verfügungsmasse überlassen ; sie
würde vielmehr durch den Gebrauch und die
großen Schriftsteller gemacht. Den staatlichen
Instanzen, zumal den Schulen, ist in dieser Sicht gar
kein Gestaltungsspielraum gegeben. Sie haben sich
nach dem in der Gesellschaft Üblichen zu richten
und nicht etwa umgekehrt.
Um die im Sinne Grillparzers
bewährte Rechtschreibung jungen Schülern
nahezubringen, veröffentlichte Wittgenstein in
seiner Zeit als Dorfschullehrer 1926 ein Wörterbuch
für Volksschulen. Von Erfolg sah er seine Arbeit
da gekrönt, wo er das Orthographische
Gewissen hatte wecken können die
Voraussetzung dafür, Unbehagen zu verspüren.