P l ä d o y e r  f ü r  m e h r  D y n a m i k
Der dritte Bericht der Mannheimer Rechtschreibkommission

Von  H e l m u t  J o ch e m s
Siegener Zeitung, 1. 3. 2002

Die Rechtschreibreform ist dynamisch, sie geht weiter – daran haben die staatlich bestellten Reformer in der Zwischenstaatlichen Kommission nie einen Zweifel gelassen. Weiter geht freilich auch die Geheimniskrämerei über dieses in höchstem Maße öffentliche Anliegen. Der hier angezeigte „Dritte Bericht“ vom 15. 12. 2001 wäre wiederum wie seine Vorgänger den eigentlich Betroffenen verborgen geblieben, hätten ihn nicht beherzte Demokraten kurzerhand ins Internet gestellt – übrigens mitsamt Auszügen aus dem weitergehenden Entwurf : „Die Neuregelung ist weder ein ‚menschenverachtendes Massenexperiment‘ noch gehört sie auf den ‚Müllhaufen der Geschichte‘.“ So tief sitzen die alten Vorwürfe, die die Reformer zu entkräften suchen.

Gerhard Augst und Klaus Heller, der Vorsitzende und der Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen Kommission, berichten über die Entwicklung der Rechtschreibreform in den Jahren 2000 und 2001. Der Bericht besteht aus zwei Hauptteilen und einem Anhang. In Teil A geht es um die „Anwendung der neuen Rechtschreibung“ innerhalb und außerhalb des Bereichs staatlicher „Regelungsvollmacht“. (S. 108) Daß aus den Schulen nur Gutes zu berichten ist, überrascht – trotz PISA – wohl niemanden angesichts der dienstlichen Erhebung der Daten. Mehr noch: Aus den Grundschulen wird Unmut darüber bekannt, daß die Substantivkleinschreibung weiter auf sich warten lasse, ja selbst die Ersetzung von ai durch ei, (teilweise) äu durch eu und aller ß durch ss hat angeblich an deutschen Schulen ihre Befürworter. Bei den Behörden und den EU-Institutionen ist die Neuregelung inzwischen „problemlos“ eingeführt worden, ebenso bei Nachrichtenagenturen und Presseorganen (mit der einen bemerkenswerten Ausnahme). Weniger gut findet die Rechtschreibkommission, daß die Nachrichtenagenturen und in deren Gefolge die gesamte Presse in wichtigen Punkten von der Neuregelung 1996 abweichen und einige Zeitungen (z. B. Die Zeit) sogar eine Hausorthographie pflegen. Das Streben nach einer unverwechselbaren „Corporate Identity“ (S. 26) dürfe nicht auf Kosten der Einheitlichkeit zum Wohle der Kinder gehen. Auch bei den sorgfältig für die Befragung ausgewählten Verlagen ist offenbar der Durchbruch gelungen: 74,3 % ihrer im Berichtszeitraum publizierten Bücher sind in Neuschreibung. Anders sieht das Bild jedoch aus, wenn man „Wissenschaftliche Literatur“, „Unterhaltungsliteratur“ und „hohe Literatur“ getrennt auszählt. Hier sträuben sich weiterhin 33 renommierte Verlage gegen die Umstellung, nur 19 machen mit. Der S.-Fischer-Verlag berichtet unverblümt: „Ein großer Teil unserer Autorinnen und Autoren besteht auf der alten Rechtschreibung.“ (S. 37) Im Bereich „Privates Schreiben“ wollen Augst/Heller eine Umstellungsrate von 50 % ermittelt haben, freilich auf der Grundlage von ganzen 131 Leserbriefen an zwei Zeitungsredaktionen. Wirklich interessant ist in Teil A nur der Abschnitt „Umschulungen – Kurse zur neuen Rechtschreibung“. An dieser Stelle wird der 3. Bericht erstaunlich konkret :

Da die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer professionell schreiben, beherrschen sie die alte Rechtschreibung recht gut; ein unmittelbarer persönlicher Nutzen ist für sie daher mit der Neuregelung nicht verbunden . . . Die allermeisten . . . können die einzelnen Schreibungen aber nicht begründen. Das Sprachgefühl steuert die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Groß- und Kleinschreibung und auch die Laut-Buchstaben-Zuordnung. (S. 57)

So funktioniert in der Tat eine unmanipulierte Rechtschreibung, und die Rechtschreibreform wird daran zu messen sein, ob diese natürliche Sicherheit je wieder eintritt.

Wer nun erwartet, daß in Teil B von der Bewährung der neuen Regeln in der „bewußten“ Schreibpraxis die Rede ist, sieht sich enttäuscht. „Diskussion alternativer Regelungen“ knüpft an den amtlichen Mängelbericht von Dezember 1997 an und liefert eine Vorschau auf die für spätestens 2005 geplante Revision. Vor vier Jahren schlugen die Rechtschreibreformer Regeländerungen vor mit dem Ziel, eine Reihe von sprachwissenschaftlich und schreibgeschichtlich unhaltbaren Neuschreibungen wieder aufzugeben. Damit konnten sie sich jedoch bei den Kultusministern der deutschsprachigen Länder nicht durchsetzen, und so blieb ihnen nur die Möglichkeit der zuweilen waghalsigen Interpretation bestehender Regeln. Noch im August 2000 wußte bekanntlich der Duden in seiner Neuauflage keine amtliche Regel dafür zu nennen, warum er neuerdings auf Anraten der Zwischenstaatlichen Kommission nur besorgniserregender (neben Besorgnis erregend) vorschreibt. Diese Erklärung liefern Augst/Heller jetzt nach : Nach Neuregelung § 36 (2) ist zusammenzuschreiben, wenn ein Teil der Zusammensetzung nicht selbständig vorkommt – also gewinnbringender, weil es die Wortform bringender nicht gibt. Ein solcher Hinweis fehlt aber an der angegebenen Stelle, und peinlicherweise wußten 1996 die Verfasser des amtlichen Wörterverzeichnisses, immerhin eines integralen Teils der Neuregelung, ebenfalls nichts davon. Jetzt heißt es deshalb: Das Wörterverzeichnis hat nur „illustrierenden, nicht normsetzenden Charakter“. (S. 81) Trotzdem bleibt weiterhin die Merkwürdigkeit, daß bei vielen zusammengesetzten Partizipien die Grundform anders als die Steigerungsformen zu schreiben ist (zufrieden stellend/zufriedenstellender). Doch auch für dieses Problem meinen die Reformer jetzt Rat zu wissen: Diese Investition ist Gewinn bringend sei aus grammatischen Gründen unmöglich, es könne nur . . . ist gewinnbringend heißen. Von „Univerbierung“ ist die Rede, freilich ohne den Hinweis, auf welche amtliche Regel sich diese Erklärung bezieht. Hier übersieht wohl niemand, welch ein argumentativer Eiertanz nötig ist, um die Reform von ihren schlimmsten Mißgriffen zu reinigen. Übrigens sollen selbst nichtssagend und sogenannt jetzt wieder zugelassen werden. Bei alledem greifen Augst/Heller Einwände auf, die den Kennern der Materie aus vielen Darlegungen des unermüdlichen Reformkritikers Theodor Ickler bekannt sind. Daß der 3. Bericht ihm grundsätzlich „Verunglimpfungen“ unterstellt und ihn als völlig diskreditiert bezeichnet, kann wahrheitsliebende Bürgerinnen und Bürger nur verwundern. Doch nach fast sechs Jahren massiver Schelte liegen bei den Reformern die Nerven eben blank. Das muß man ihnen nachsehen. Andererseits haben sie auch dazugelernt. Eine Erweiterung der „Toleranzregel“ § 36 E2 soll nun auch die ratsuchenden Bürger und eine alleinerziehende Mutter wieder zulassen – samt Ratsuchende und Alleinerziehende.

Wirklich über ihren eigenen Schatten springen die Reformer bei ihren Paradeschreibungen Leid tun, Not tun und Pleite gehen. In diesen Fällen könnte es bald drei Schreibungen geben: leidtun („ganz neu“), Leid tun („neu“) und leid tun („alt“). Im Rahmen dieser Überlegungen packen die Reformer sogar das heißeste Eisen der Neuregelung an : den Verzicht auf das Betonungskriterium bei der Bestimmung von Verbzusammensetzungen und folglich deren Zusammenschreibung. 1997 hatten sie schon weitgehende Regeländerungen vorgeschlagen, die dann aber der Amtschefskonferenz der Kultusminister zum Opfer fielen. Jetzt sagen Augst/Heller: „Mit Hilfe des Betonungskriteriums wird die Zuammenschreibung als individueller Schreibusus möglich.“ (S. 76) Bravo, hier sind so viele Wörter betroffen, daß wir sie unmöglich aufführen können. An dieser Stelle sollten einige Journalisten aufhorchen. Ihrem neuerlichen Hang, zusammengesetzte Verben nach Belieben aufzulösen (auf zu lösen), da die Rechtschreibkontrolle des Redaktionscomputers in diesem Falle nichts merkt, kann man keine große Zukunft voraussagen. Schließlich sind noch fast 30 Seiten des Berichts Fällen wie schwarzes/Schwarzes Brett gewidmet. Der Fleiß ist zu bewundern, aber er ist für die Katz : Hier hat es nach dem eindeutigen Veto der Presseagenturen keine Einbrüche gegeben. Die entsprechenden neuen Regeln wie auch die zur reformierten Kommasetzung interessieren – außerhalb der Schulen – heute niemanden mehr.

Die Lektüre des Anhangs, insbesondere der Stellungnahmen des „bundesrepublikanischen“ und des österreichischen Beirates, kann man sich ersparen. Immerhin wird hier die Veröffentlichung der Zwischenstaatlichen Berichte angeregt, was Augst/Heller aber nur mit der Einschränkung befürworten, daß die „zu erwartende Diskussion zumindest am Anfang zu steuern“ sei.

 Trotz allem ist es tröstlich, daß den führenden Rechtschreibreformern auch nach jahrzehntelangem Einsatz für ihre Lieblingsideen der Kontakt zur Sprachwirklichkeit nicht verlorengegangen ist. Gegen Ende des redaktionellen Teils ihres Berichts sprechen Gerhard Augst und Klaus Heller von der „Dynamik der Sprache“, die es deutlich zu machen gelte. „Die Veränderung der Rechtschreibung könnte damit trotz (amtlicher) Normierung als etwas der Rechtschreibung Wesensgemäßes verstanden und toleriert werden.“ (S. 112) Nichts anderes meinte am 26. März 1998 der Deutsche Bundestag mit seinem Votum „Die Sprache gehört dem Volk“. Jetzt müßten nur noch alle deutschen Kultusminister zu diesem demokratischen Grundkonsens zurückfinden. Dagmar Schipanski, die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hat gerade den Anfang gemacht: Sie schreibt tiefgreifend wieder zusammen – „alt“ und zugleich „ganz neu“.