Früher
verhießen die Wörterbuchverlage den Käufern ihrer
Produkte mit jeder Neubearbeitung Tausende neuer
Wörter, womit sie suggerierten, erst durch die
lexikographische Verzeichnung werde den Zugängen im
deutschen Wortschatz ihre Existenzberechtigung
verbrieft. Heute bieten die gleichen Verlage mit
jedem Wörterbuch eine neue Rechtschreibung. Ein
Höhepunkt dieser Entwicklung ist zweifellos mit
Renate Wahrig-Burfeinds und Peter Eisenbergs
Wahrig erreicht, denn dieses Werk bietet
gleich zwei neue Rechtschreibungen an eine
schlechte und eine etwas weniger schlechte.
Eisenberg ließ vor einigen Jahren mit der These
aufhorchen, daß man auf der Basis des Regelwerks von
1996 nie zu einer einheitlichen Schreibung
zurückkehren werde. Die Rechtschreibreform sei
so schlecht, daß sie
sprachwissenschaftlich auf den Müll
gehöre. Das war nicht elegant, aber deutlich. Etwas
später gab der Potsdamer Linguist in einer
Lehrerzeitschrift die Losung aus, man müsse mit der
Reform leben und ihre Umsetzung beschleunigen
helfen. Dann hieß es, er sitze im Auftrag der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an einem
Gegenentwurf; er dementierte jedoch Gerüchte, wonach
er an einem Wörterbuch arbeite. Jetzt, da der
Wahrig des Deutschen Taschenbuchverlags
(nicht zu verwechseln mit dem kürzlich erschienenen
Wahrig des Bertelsmann-Verlags) vorliegt,
wird erkennbar, wie das gemeint war. Denn Eisenbergs
Grundregeln der deutschen Orthografie
(sic) stehen im offenen Widerspruch zu dem
Wörterbuch, als dessen Einleitung sie erscheinen.
In die Kritik geratene Neuregelungen
seien im neuen Wahrig eigens
gekennzeichnet und kommentiert, heißt es
auf dem rückwärtigen Buchdeckel des überformatigen
Taschenbuchs. Waren bisher im Duden und
den konkurrierenden Produkten die Neuschreibungen in
warnendem Rot gehalten, so wählt Eisenberg nun für
seine Anmerkungen ein beruhigendes Blau. Hinter der
Ankündigung des Verlags bleibt er allerdings weit
zurück. Obwohl kein einziger Aspekt der Neuregelung
von 1996 auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist,
beschränkt Eisenberg seine Kommentare und
Reparaturversuche auf jene Teilbereiche, die er
persönlich heute immer noch für problematisch
hält. Über die sinnlose Pedanterie des
Drei-Buchstaben-Zwangs (Flussschifffahrt)
geht er ebenso hinweg wie über die fehlerträchtige
Neuverteilung von ss und ß, die er einst treffend
als die schlechteste überhaupt denkbare
Lösung bezeichnete.
Immerhin hat sich Eisenberg mit der amtlich
vorgeschriebenen Getrenntschreibung noch nicht
abgefunden. Das Regelwerk von 1996 ist in diesem
Bereich bekanntlich besonders komplex und
realitätsfern. Es untersagt unter anderem die
Zusammenschreibung von Infinitiven und Verben.
Eisenbergs hält dagegen: Es wird empfohlen,
bei enger Verbindung der Bestandteile wie in kennenlernen
oder spazierengehen Zusammenschreibung
weiter zuzulassen (. . .). Wem aber wird dies
empfohlen? An den ratsuchenden Wörterbuchleser kann
dieser Satz nicht gerichtet sein; er müßte sonst
lauten: Es wird empfohlen, (. . .)
Zusammenschreibung zu wählen. Der Ratschlag
scheint an eine sprachpolitische Zulassungsstelle
adressiert zu sein. Vielleicht handelt es sich hier
und an anderen, gleichlautend formulierten Stellen um
Textbausteine aus jener Zeit, als der Autor
kurzzeitig Mitglied der
zwischenstaatlichen
Rechtschreibkommission war. Vielleicht glaubt
Eisenberg auch, seine Empfehlungen hätten Aussicht,
von der Kultusministerkonferenz erhört zu werden.
Sicher ist nur, daß er eine Darstellung der
deutschen Orthographie besser nicht mit
Politikberatung verquicken sollte.
Renate Wahrig-Burfeind hat Eisenbergs Vorschläge
nicht in die Tat umgesetzt. Und so zieht sich durch
den neuen Wahrig ein Riß. Im Regelteil
wird die Zusammenschreibung von
kennenlernen präferiert, im
Wörterverzeichnis aber gilt sie als unzulässig. Das
Lemma Fleisch enthält zwar einen Verweis
auf jenen Abschnitt des Regelwerks, wo nachzulesen
ist, daß man auch fleischfressend
schreiben dürfe oder wenigstens schreiben
dürfen sollte. Trotzdem gibt es kein Lemma
fleischfressend, denn das Wort ist ja im
Auftrag der Kultusministerkonferenz verboten worden.
Die orthographische Bewußtseinsspaltung des
Wahrig setzt sich auch in anderen
Bereichen fort. So wird der Gebrauch des Apostrophs
in dem Beispiel Helgas Fahrradshop
von Eisenberg als ungrammatisch
disqualifiziert. Im Wörterverzeichnis hingegen gibt
ein gesonderter Kasten die Auskunft, der Apostroph
könne verwendet werden, um die Genitivendung
-s oder das Adjektivsuffix -sch abzutrennen, z. B.
Silvias Reitershop. Ob dieser
verbreitete, aber auch verpönte Brauch 1996 amtliche
Billigung erfahren hat, ist umstritten. Der Verdacht
liegt nahe, daß Silvias Reitershop
ebenso ungrammatisch sein muß wie Helgas
Fahrradshop. Wer hat recht
Renates Wörterverzeichnis oder
Peters Regelwerk?
Rechtschreibung ist eine sprachliche Praxis, die sich
täglich neu vollzieht. Die Formulierung
orthographischer Regeln ist der wissenschaftliche
Versuch, sich auf den Usus einen Reim zu machen. Die
Gewohnheit, im Duden und anderen
Nachschlagewerken dieser Art den Regelteil dem
Wörterverzeichnis voranzustellen, stellt also die
Verhältnisse auf den Kopf. Erst durch die Neigung
des gemeinen Wörterbuchbenutzers, die Regeln nur im
äußersten Notfall nachzuschlagen, kommen sie wieder
auf die Füße. Das Problem hätte bekannt sein
müssen. Dennoch haben die Rechtschreibreformer den
verfehlten Ansatz verfolgt, Regeln zu ersinnen, ohne
ihre Auswirkungen auf den Wortschatz hinlänglich zu
überprüfen. Renate Wahrig-Burfeind, Peter Eisenberg
und der Deutsche Taschenbuchverlag weisen nun einen
neuen Weg. In ihrem Universalwörterbuch
sind weder die einzelnen Wortschreibungen aus den
allgemeinen Regeln, noch die Regeln aus den
Wortschreibungen abgeleitet. In der Geschichte der
deutschen Lexikographie ist das ohne Beispiel.
Wahrig Universalwörterbuch
Rechtschreibung. Herausgegeben von Renate
Wahrig-Burfeind. Deutscher Taschenbuchverlag,
München 2002. 1316 S.