S ch i z o p h r e n e   O r t h o g r a p h i e

Von  R e i n h a r d  M a r k n e r
Berliner Zeitung, 2. 9. 2002

Früher verhießen die Wörterbuchverlage den Käufern ihrer Produkte mit jeder Neubearbeitung Tausende neuer Wörter, womit sie suggerierten, erst durch die lexikographische Verzeichnung werde den Zugängen im deutschen Wortschatz ihre Existenzberechtigung verbrieft. Heute bieten die gleichen Verlage mit jedem Wörterbuch eine neue Rechtschreibung. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung ist zweifellos mit Renate Wahrig-Burfeinds und Peter Eisenbergs „Wahrig“ erreicht, denn dieses Werk bietet gleich zwei neue Rechtschreibungen an – eine schlechte und eine etwas weniger schlechte.

Eisenberg ließ vor einigen Jahren mit der These aufhorchen, daß man auf der Basis des Regelwerks von 1996 „nie zu einer einheitlichen Schreibung zurückkehren“ werde. Die Rechtschreibreform sei „so schlecht“, daß sie „sprachwissenschaftlich auf den Müll“ gehöre. Das war nicht elegant, aber deutlich. Etwas später gab der Potsdamer Linguist in einer Lehrerzeitschrift die Losung aus, man müsse mit der Reform leben und ihre „Umsetzung beschleunigen helfen“. Dann hieß es, er sitze im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an einem Gegenentwurf; er dementierte jedoch Gerüchte, wonach er an einem Wörterbuch arbeite. Jetzt, da der „Wahrig“ des Deutschen Taschenbuchverlags (nicht zu verwechseln mit dem kürzlich erschienenen „Wahrig“ des Bertelsmann-Verlags) vorliegt, wird erkennbar, wie das gemeint war. Denn Eisenbergs „Grundregeln der deutschen Orthografie (sic)“ stehen im offenen Widerspruch zu dem Wörterbuch, als dessen Einleitung sie erscheinen.

„In die Kritik geratene Neuregelungen“ seien im neuen „Wahrig“ eigens „gekennzeichnet und kommentiert“, heißt es auf dem rückwärtigen Buchdeckel des überformatigen Taschenbuchs. Waren bisher im „Duden“ und den konkurrierenden Produkten die Neuschreibungen in warnendem Rot gehalten, so wählt Eisenberg nun für seine Anmerkungen ein beruhigendes Blau. Hinter der Ankündigung des Verlags bleibt er allerdings weit zurück. Obwohl kein einziger Aspekt der Neuregelung von 1996 auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist, beschränkt Eisenberg seine Kommentare und Reparaturversuche auf jene Teilbereiche, die er persönlich heute immer noch für problematisch hält. Über die sinnlose Pedanterie des Drei-Buchstaben-Zwangs („Flussschifffahrt“) geht er ebenso hinweg wie über die fehlerträchtige Neuverteilung von ss und ß, die er einst treffend als „die schlechteste überhaupt denkbare Lösung“ bezeichnete.

Immerhin hat sich Eisenberg mit der amtlich vorgeschriebenen Getrenntschreibung noch nicht abgefunden. Das Regelwerk von 1996 ist in diesem Bereich bekanntlich besonders komplex und realitätsfern. Es untersagt unter anderem die Zusammenschreibung von Infinitiven und Verben. Eisenbergs hält dagegen: „Es wird empfohlen, bei enger Verbindung der Bestandteile wie in kennenlernen oder spazierengehen Zusammenschreibung weiter zuzulassen (. . .).“ Wem aber wird dies empfohlen? An den ratsuchenden Wörterbuchleser kann dieser Satz nicht gerichtet sein; er müßte sonst lauten: „Es wird empfohlen, (. . .) Zusammenschreibung zu wählen.“ Der Ratschlag scheint an eine sprachpolitische Zulassungsstelle adressiert zu sein. Vielleicht handelt es sich hier und an anderen, gleichlautend formulierten Stellen um Textbausteine aus jener Zeit, als der Autor kurzzeitig Mitglied der „zwischenstaatlichen“ Rechtschreibkommission war. Vielleicht glaubt Eisenberg auch, seine Empfehlungen hätten Aussicht, von der Kultusministerkonferenz erhört zu werden. Sicher ist nur, daß er eine Darstellung der deutschen Orthographie besser nicht mit Politikberatung verquicken sollte.

Renate Wahrig-Burfeind hat Eisenbergs Vorschläge nicht in die Tat umgesetzt. Und so zieht sich durch den neuen „Wahrig“ ein Riß. Im Regelteil wird die Zusammenschreibung von „kennenlernen“ präferiert, im Wörterverzeichnis aber gilt sie als unzulässig. Das Lemma „Fleisch“ enthält zwar einen Verweis auf jenen Abschnitt des Regelwerks, wo nachzulesen ist, daß man auch „fleischfressend“ schreiben dürfe – oder wenigstens schreiben dürfen sollte. Trotzdem gibt es kein Lemma „fleischfressend“, denn das Wort ist ja im Auftrag der Kultusministerkonferenz verboten worden.

Die orthographische Bewußtseinsspaltung des „Wahrig“ setzt sich auch in anderen Bereichen fort. So wird der Gebrauch des Apostrophs in dem Beispiel „Helga’s Fahrradshop“ von Eisenberg als „ungrammatisch“ disqualifiziert. Im Wörterverzeichnis hingegen gibt ein gesonderter Kasten die Auskunft, der Apostroph könne „verwendet werden, um die Genitivendung -s oder das Adjektivsuffix -sch abzutrennen, z. B. Silvia’s Reitershop“. Ob dieser verbreitete, aber auch verpönte Brauch 1996 amtliche Billigung erfahren hat, ist umstritten. Der Verdacht liegt nahe, daß „Silvia’s Reitershop“ ebenso ungrammatisch sein muß wie „Helga’s Fahrradshop“. Wer hat recht – „Renate’s Wörterverzeichnis“ oder „Peters Regelwerk“?

Rechtschreibung ist eine sprachliche Praxis, die sich täglich neu vollzieht. Die Formulierung orthographischer Regeln ist der wissenschaftliche Versuch, sich auf den Usus einen Reim zu machen. Die Gewohnheit, im „Duden“ und anderen Nachschlagewerken dieser Art den Regelteil dem Wörterverzeichnis voranzustellen, stellt also die Verhältnisse auf den Kopf. Erst durch die Neigung des gemeinen Wörterbuchbenutzers, die Regeln nur im äußersten Notfall nachzuschlagen, kommen sie wieder auf die Füße. Das Problem hätte bekannt sein müssen. Dennoch haben die Rechtschreibreformer den verfehlten Ansatz verfolgt, Regeln zu ersinnen, ohne ihre Auswirkungen auf den Wortschatz hinlänglich zu überprüfen. Renate Wahrig-Burfeind, Peter Eisenberg und der Deutsche Taschenbuchverlag weisen nun einen neuen Weg. In ihrem „Universalwörterbuch“ sind weder die einzelnen Wortschreibungen aus den allgemeinen Regeln, noch die Regeln aus den Wortschreibungen abgeleitet. In der Geschichte der deutschen Lexikographie ist das ohne Beispiel.

„Wahrig Universalwörterbuch Rechtschreibung.“ Herausgegeben von Renate Wahrig-Burfeind. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2002. 1316 S.