S p r a ch f ü h r e r     Über den Sonderweg
der deutschen Rechtschreibreformer

Von  H a n n o  B i r k e n - B e r t s ch  und  R e i n h a r d  M a r k n e r
Junge Welt, 3. 4. 2001

Die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft stellte 1997 in einer von der Öffentlichkeit wenig beachteten Erklärung fest, die im Jahr zuvor beschlossene Reform der deutschen Rechtschreibung entspreche »nicht dem Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung«. Gleiches hätte sich, jedenfalls im Hinblick auf die internationale Diskussion, schon in den vierziger Jahren von ähnlichen Reformplänen des Reichserziehungsministeriums sagen lassen.

In der Zeitschrift Erkenntnis, deren Herausgeber Rudolf Carnap und Hans Reichenbach einer neuen Wissenschaftsauffassung Bahn brachen, wandten sich Aarni Penttilä und Uuno Saarnio 1934 gegen die Auffassung, die Schrift sei als »Sprache zweiter Hand« zu betrachten. Die beiden Finnen erklärten, die geschriebene Sprache sei kein »Symbolsystem eines anderen Symbolsystems«, sondern stehe »prinzipiell auf derselben Stufe« wie die gesprochene. Auch im Prager linguistischen Zirkel stand das Problem der Schrift auf dem Programm. Die Anregung eines ukrainischen Kollegen aufgreifend, bestimmte Josef Vachek 1939 gesprochene und geschriebene Sprache als gleichrangige Systeme. Zwischen diesen bildeten Orthographie und Aussprache »eine Art Brücke«, die den Übergang von der Sprech- zur Schreibnorm und umgekehrt ermögliche. Daß die gesprochene Sprache vermutlich älter als die geschriebene sei, gestand Vachek ein. Eine funktionalistische Betrachtung lasse jedoch erkennen, daß auch die Schrift als ein »primäres Zeichensystem« zu gelten habe.

Die These von der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Schreiben und Sprechen vertrat auch der dänische Linguist Hans Jörgen Uldall. Seine 1938 auf dem Internationalen anthropologischen Kongreß in Kopenhagen vorgetragene Begründung unterschied sich allerdings von dem Ansatz Vacheks, insofern er die beiden Systeme jeweils als Ausprägungen der Sprache an sich verstand. Diese wiederum bezeichnete er als eine Form, die in verschiedenen »Substanzen« – sei es ein Lufthauch oder ein Federstrich – realisiert werden könne.

Die Forscher der Prager und der Kopenhagener Schule pflegten das wissenschaftliche Gespräch untereinander – man könnte fast sagen, über die Köpfe der Deutschen hinweg, hätte nicht Louis Hjelmslev am 21. April 1938 einen Vortrag in Berlin gehalten. Vor der Deutschen Gesellschaft für Phonetik erklärte er, daß die Laute »nicht zum Wesen der Sprache« gehörten. Die gesprochene Sprache sei als nur eine unter vielen möglichen Materialisierungen von Sprache anzusehen. Hjelmslev karikierte die herrschenden phonozentrischen Vorstellungen, indem er hervorhob, daß »der schriftliche Ausdruck schwerlich als direkt sprachwidrig aufgefaßt werden« könne.

Ob Hjelmslevs Thesen bei seinen Zuhörern auf Verständnis stießen, ist fraglich. Die deutsche Phonetik stellte sich zu jener Zeit neuen, ganz anderen Herausforderungen. »Um die rassischen Seiten des Sprechvorgangs zu erfassen«, bereitete einer ihrer avanciertesten Vertreter, Eberhard Zwirner, in Kooperation mit dem Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage »Magnetophonaufnahmen deutschsprechender Juden« vor. Dieses Projekt war zeitgemäß nicht nur, weil der empirische Beweis geführt werden sollte, daß die jüdischen Deutschen keine Angehörigen der deutschen Sprach- und Volksgemeinschaft seien, sondern auch, weil die Untersuchung beim »Sprechvorgang« ansetzte. Die Orientierung am Sprechen bestimmte die deutsche Sprachwissenschaft in einem Maße, daß Karl Reumuth 1942 eine »copernicanische Wendung in der deutschen Sprachlehre« verkünden konnte. Dieser Umschwung erfaßte alle Teilgebiete der Disziplin. So leistete Theodor Frings den Beitrag der Sprachgeschichte, indem er die Entstehung des Hochdeutschen statt vom Schriftdeutschen der böhmischen und sächsischen Kanzleien aus Siedlungsbewegungen im mitteldeutschen Raum herzuleiten suchte.

Die Konjunktur des Mündlichen wurde von den Zeitgenossen nicht als eine wissenschaftsimmanente Erscheinung wahrgenommen. Die Grundregel formulierte 1935 der Sprecherzieher Maximilian Weller: »Nationalsozialismus und das gesprochene Wort sind einfach nicht voneinander zu trennen.« Den Maßstab setzte die vor aufmarschierten Formationen gehaltene und per Volksempfänger in alle Reichsgaue verbreitete »Führerrede«. Auch Reumuth vertraute auf ihre Tiefenwirkung und zeigte sich überzeugt, daß jeder Volksgenosse Hitlers Ansprache vom 1. September 1939 »in der ganzen Klanggestalt in seinem Herzen« trage.

Als Reumuth im Juni 1944 den Versuch unternahm, die von ihm mit ausgearbeitete Rechtschreibreform dem staunenden Publikum in einem Zeitungsartikel zu erläutern, strich er heraus, wie sehr »das neue Regelbuch von der neueren Sprachauffassung durchdrungen« sei. Tatsächlich enthielt es einen Abschnitt, der zum Ziel hatte, »das richtige Setzen der Satzzeichen von der Schallform des Satzes her zu unterstützen«.

Zur Durchsetzung der über mehrere Jahre hinweg im Auftrag des Reichserziehungsministeriums vorbereiteten Reform sollte es allerdings nicht mehr kommen, da Hitler kurzerhand die »Zurückstellung der  gesamten Rechtschreibungsarbeiten bis Kriegsende« befahl. Diese Entscheidung wurde mit Blick auf die sich stetig verschlechternde militärische Lage getroffen. Grundsätzlich entsprachen die vorgesehenen Neuschreibungen, etwa »Filosof« und »Kautsch«, Hitlers Vorgabe, zwar Fremdwörter, aber bei diesen keine »Diskrepanz zwischen Schriftbild und Aussprache« zu dulden.

Die Reformpläne der Jahre 1941–44 gehorchten konsequent dem sogenannten »phonematischen Prinzip«, welches die Unterordnung der Schrift unter eine zu vereinheitlichende Aussprache verlangt. Daß sich die Wechselwirkungen von geschriebener und gesprochener Sprache nicht sinnvoll als ein schieres Abhängigkeitsverhältnis denken lassen, hatten bereits die Prager und Kopenhagener Strukturalisten aufgezeigt. An diese Ergebnisse knüpfte Jacques Derrida an, als er 1967 zu einer Generalkritik an der bis auf Platon zurückzuverfolgenden philosophischen Privilegierung des Mündlichen ausholte. Obwohl sein Buch De la grammatologie schnell als ein Hauptwerk des Poststrukturalismus begriffen wurde und auch in Übersetzung weite Verbreitung fand, fand es bei den deutschen Linguisten zunächst keine Resonanz. Erst Mitte der achtziger Jahre begannen hier die ersten Wissenschaftler, die Tradition der Schriftverachtung in Frage zu stellen. Etwa zur gleichen Zeit setzte eine gründlichere Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte der eigenen Disziplin ein.

An den Kommissionen jedoch, die sich über die Jahrzehnte – mal in staatlichem Auftrag, mal nur in der Hoffnung, einen solchen zu erhalten – mit der deutschen Rechtschreibung befaßt haben, gingen diese Entwicklungen spurlos vorbei. Während die meisten Menschen dazu neigen, die Gegenstände zu überschätzen, mit denen sie sich beschäftigen, beharrten ausgerechnet die Rechtschreibreformer darauf, die Orthographie, ja überhaupt die Schrift für etwas Nachrangiges zu halten. Daß diese überholte Auffassung in den Jahren des Nationalsozialismus eine besondere Blüte erfahren hatte, dürfte ihnen nicht bewußt gewesen sein. Kaum vorstellbar allerdings scheint es, daß die sorgfältige Aussparung jener Zeit in allen historischen Abrissen, die von den Reformern vorgelegt wurden, purer Zufall gewesen sein sollte.

Politisch bedenklich an der jüngsten Rechtschreibreform ist daher nicht allein der Versuch der beteiligten Staaten, sich eine »Hausorthografie« zu schaffen, unbeeindruckt davon, was deren Bürger oder auch nur die Büchner- und Literaturnobelpreisträger davon halten. Nicht übersehen werden sollte zudem ihr lange verdrängter theoretischer Anachronismus, der sich bei näherer Betrachtung als Fortsetzung eines in den dreißiger Jahren eingeschlagenen Sonderwegs erweist.