Die Deutsche
Gesellschaft für Sprachwissenschaft stellte 1997 in
einer von der Öffentlichkeit wenig beachteten
Erklärung fest, die im Jahr zuvor beschlossene
Reform der deutschen Rechtschreibung entspreche
»nicht dem Stand der sprachwissenschaftlichen
Forschung«. Gleiches hätte sich, jedenfalls im
Hinblick auf die internationale Diskussion, schon in
den vierziger Jahren von ähnlichen Reformplänen des
Reichserziehungsministeriums sagen lassen.
In der Zeitschrift Erkenntnis,
deren Herausgeber Rudolf Carnap und Hans Reichenbach
einer neuen Wissenschaftsauffassung Bahn brachen,
wandten sich Aarni Penttilä und Uuno Saarnio 1934
gegen die Auffassung, die Schrift sei als »Sprache
zweiter Hand« zu betrachten. Die beiden Finnen
erklärten, die geschriebene Sprache sei kein
»Symbolsystem eines anderen Symbolsystems«, sondern
stehe »prinzipiell auf derselben Stufe« wie die
gesprochene. Auch im Prager linguistischen Zirkel
stand das Problem der Schrift auf dem Programm. Die
Anregung eines ukrainischen Kollegen aufgreifend,
bestimmte Josef Vachek 1939 gesprochene und
geschriebene Sprache als gleichrangige Systeme.
Zwischen diesen bildeten Orthographie und Aussprache
»eine Art Brücke«, die den Übergang von der
Sprech- zur Schreibnorm und umgekehrt ermögliche.
Daß die gesprochene Sprache vermutlich älter als
die geschriebene sei, gestand Vachek ein. Eine
funktionalistische Betrachtung lasse jedoch erkennen,
daß auch die Schrift als ein »primäres
Zeichensystem« zu gelten habe.
Die These von der
prinzipiellen Gleichwertigkeit von Schreiben und
Sprechen vertrat auch der dänische Linguist Hans
Jörgen Uldall. Seine 1938 auf dem Internationalen
anthropologischen Kongreß in Kopenhagen vorgetragene
Begründung unterschied sich allerdings von dem
Ansatz Vacheks, insofern er die beiden Systeme
jeweils als Ausprägungen der Sprache an sich
verstand. Diese wiederum bezeichnete er als eine
Form, die in verschiedenen »Substanzen« sei
es ein Lufthauch oder ein Federstrich
realisiert werden könne.
Die Forscher der Prager und
der Kopenhagener Schule pflegten das
wissenschaftliche Gespräch untereinander man
könnte fast sagen, über die Köpfe der Deutschen
hinweg, hätte nicht Louis Hjelmslev am 21. April
1938 einen Vortrag in Berlin gehalten. Vor der
Deutschen Gesellschaft für Phonetik erklärte er,
daß die Laute »nicht zum Wesen der Sprache«
gehörten. Die gesprochene Sprache sei als nur eine
unter vielen möglichen Materialisierungen von
Sprache anzusehen. Hjelmslev karikierte die
herrschenden phonozentrischen Vorstellungen, indem er
hervorhob, daß »der schriftliche Ausdruck
schwerlich als direkt sprachwidrig aufgefaßt
werden« könne.
Ob Hjelmslevs Thesen bei
seinen Zuhörern auf Verständnis stießen, ist
fraglich. Die deutsche Phonetik stellte sich zu jener
Zeit neuen, ganz anderen Herausforderungen. »Um die
rassischen Seiten des Sprechvorgangs zu erfassen«,
bereitete einer ihrer avanciertesten Vertreter,
Eberhard Zwirner, in Kooperation mit dem Frankfurter
Institut zur Erforschung der Judenfrage
»Magnetophonaufnahmen deutschsprechender Juden«
vor. Dieses Projekt war zeitgemäß nicht nur, weil
der empirische Beweis geführt werden sollte, daß
die jüdischen Deutschen keine Angehörigen der
deutschen Sprach- und Volksgemeinschaft seien,
sondern auch, weil die Untersuchung beim
»Sprechvorgang« ansetzte. Die Orientierung am
Sprechen bestimmte die deutsche Sprachwissenschaft in
einem Maße, daß Karl Reumuth 1942 eine
»copernicanische Wendung in der deutschen
Sprachlehre« verkünden konnte. Dieser Umschwung
erfaßte alle Teilgebiete der Disziplin. So leistete
Theodor Frings den Beitrag der Sprachgeschichte,
indem er die Entstehung des Hochdeutschen statt vom
Schriftdeutschen der böhmischen und sächsischen
Kanzleien aus Siedlungsbewegungen im mitteldeutschen
Raum herzuleiten suchte.
Die Konjunktur des
Mündlichen wurde von den Zeitgenossen nicht als eine
wissenschaftsimmanente Erscheinung wahrgenommen. Die
Grundregel formulierte 1935 der Sprecherzieher
Maximilian Weller: »Nationalsozialismus und das
gesprochene Wort sind einfach nicht voneinander zu
trennen.« Den Maßstab setzte die vor
aufmarschierten Formationen gehaltene und per
Volksempfänger in alle Reichsgaue verbreitete
»Führerrede«. Auch Reumuth vertraute auf ihre
Tiefenwirkung und zeigte sich überzeugt, daß jeder
Volksgenosse Hitlers Ansprache vom 1. September 1939
»in der ganzen Klanggestalt in seinem Herzen«
trage.
Als Reumuth im Juni 1944 den
Versuch unternahm, die von ihm mit ausgearbeitete
Rechtschreibreform dem staunenden Publikum in einem
Zeitungsartikel zu erläutern, strich er heraus, wie
sehr »das neue Regelbuch von der neueren
Sprachauffassung durchdrungen« sei. Tatsächlich
enthielt es einen Abschnitt, der zum Ziel hatte,
»das richtige Setzen der Satzzeichen von der
Schallform des Satzes her zu unterstützen«.
Zur Durchsetzung der über
mehrere Jahre hinweg im Auftrag des
Reichserziehungsministeriums vorbereiteten Reform
sollte es allerdings nicht mehr kommen, da Hitler
kurzerhand die »Zurückstellung der gesamten
Rechtschreibungsarbeiten bis Kriegsende« befahl.
Diese Entscheidung wurde mit Blick auf die sich
stetig verschlechternde militärische Lage getroffen.
Grundsätzlich entsprachen die vorgesehenen
Neuschreibungen, etwa »Filosof« und »Kautsch«,
Hitlers Vorgabe, zwar Fremdwörter, aber bei diesen
keine »Diskrepanz zwischen Schriftbild und
Aussprache« zu dulden.
Die Reformpläne der Jahre
194144 gehorchten konsequent dem sogenannten
»phonematischen Prinzip«, welches die Unterordnung
der Schrift unter eine zu vereinheitlichende
Aussprache verlangt. Daß sich die Wechselwirkungen
von geschriebener und gesprochener Sprache nicht
sinnvoll als ein schieres Abhängigkeitsverhältnis
denken lassen, hatten bereits die Prager und
Kopenhagener Strukturalisten aufgezeigt. An diese
Ergebnisse knüpfte Jacques Derrida an, als er 1967
zu einer Generalkritik an der bis auf Platon
zurückzuverfolgenden philosophischen Privilegierung
des Mündlichen ausholte. Obwohl sein Buch De la
grammatologie schnell als ein Hauptwerk des
Poststrukturalismus begriffen wurde und auch in
Übersetzung weite Verbreitung fand, fand es bei den
deutschen Linguisten zunächst keine Resonanz. Erst
Mitte der achtziger Jahre begannen hier die ersten
Wissenschaftler, die Tradition der Schriftverachtung
in Frage zu stellen. Etwa zur gleichen Zeit setzte
eine gründlichere Auseinandersetzung mit der
politischen Geschichte der eigenen Disziplin ein.
An den Kommissionen jedoch,
die sich über die Jahrzehnte mal in
staatlichem Auftrag, mal nur in der Hoffnung, einen
solchen zu erhalten mit der deutschen
Rechtschreibung befaßt haben, gingen diese
Entwicklungen spurlos vorbei. Während die meisten
Menschen dazu neigen, die Gegenstände zu
überschätzen, mit denen sie sich beschäftigen,
beharrten ausgerechnet die Rechtschreibreformer
darauf, die Orthographie, ja überhaupt die Schrift
für etwas Nachrangiges zu halten. Daß diese
überholte Auffassung in den Jahren des
Nationalsozialismus eine besondere Blüte erfahren
hatte, dürfte ihnen nicht bewußt gewesen sein. Kaum
vorstellbar allerdings scheint es, daß die
sorgfältige Aussparung jener Zeit in allen
historischen Abrissen, die von den Reformern
vorgelegt wurden, purer Zufall gewesen sein sollte.
Politisch bedenklich an der
jüngsten Rechtschreibreform ist daher nicht allein
der Versuch der beteiligten Staaten, sich eine
»Hausorthografie« zu schaffen, unbeeindruckt davon,
was deren Bürger oder auch nur die Büchner- und
Literaturnobelpreisträger davon halten. Nicht
übersehen werden sollte zudem ihr lange verdrängter
theoretischer Anachronismus, der sich bei näherer
Betrachtung als Fortsetzung eines in den dreißiger
Jahren eingeschlagenen Sonderwegs erweist.